«Oft hiess es dann, ich sei halt der Idiot»: Hunderttausende Schweizer haben Mühe mit Lesen oder Schreiben

Wer von Illettrismus betroffen ist, hat oft Mühe, seinen Platz in der Gesellschaft zu finden. Die Digitalisierung kann Personen mit einer Lese- und Schreibschwäche helfen – doch entstehen auch neue Probleme.

Franco Arnold 6 min
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«Personen, die von funktionalem Analphabetismus betroffen sind, sind nicht minder intelligent», sagt Afra Sturm, die Leiterin des Zentrums Lesen an der Pädagogischen Hochschule FHNW. Sie brauchten mehr Lernzeit und Förderung.

«Personen, die von funktionalem Analphabetismus betroffen sind, sind nicht minder intelligent», sagt Afra Sturm, die Leiterin des Zentrums Lesen an der Pädagogischen Hochschule FHNW. Sie brauchten mehr Lernzeit und Förderung.

Karin Hofer / NZZ

«Die Schulzeit war schwierig für mich – und ich war oft sehr traurig. Ich wurde gehänselt, und ich hatte keine Freunde.» (U. K., 46-jährig, IT-Unternehmer)

Wer die obligatorische Schule absolviert hat, kann lesen und schreiben. Davon geht man in der Schweiz aus. Doch es gibt viele Menschen, die bereits beim Lesen eines Fahrplans oder einer Pendlerzeitung ins Schwitzen geraten.

800 000 Menschen in der Schweiz haben laut dem Bundesamt für Statistik (BfS) eine Lese- oder Schreibschwäche. Sie haben die Schule in der Schweiz absolviert, kennen das Alphabet, können das Schild einer Bushaltestelle lesen und auch mühelos ihren Namen schreiben. Nicht alle von ihnen fühlen sich in ihrem Alltag eingeschränkt. Doch viele stossen in ganz gewöhnlichen Situationen an Grenzen: Der Sinn eines längeren Textes erschliesst sich ihnen oft nicht – oder bloss nach langsamem und wiederholtem Lesen. Drei Sätze auf eine Geburtstagskarte zu schreiben, kann für sie schon einmal eine halbe Stunde in Anspruch nehmen.

«Wenn mich jemand fragt, ob ich einen Text ohne Fehler schreiben könne, muss ich ganz klar sagen: ‹Nein, das kann ich nicht.› Das stösst teilweise auf Unverständnis.» (M. A., 30-jährig, Fachmann Betreuung in Ausbildung)

In unserer Gesellschaft ist man unzählige Male am Tag mit Schrift und Text konfrontiert. Wie stark, hängt vom Umfeld ab. Wenn eine Person aber ihren beruflichen und privaten Alltag nicht problemlos bewältigen kann, wird von Illettrismus oder funktionalem Analphabetismus gesprochen.

Anders als bei der Legasthenie, der oft diagnostizierten Lese- und Rechtschreibstörung, handelt es sich bei Illettrismus nicht um eine klassifizierte Krankheit. Vielmehr ist er ein soziales Phänomen: Einerseits beschreibt es eine gesellschaftliche Erscheinung, andererseits die persönliche Situation von den Hunderttausenden Betroffenen in der Schweiz.

«Die Zahl 800 000 ist sicherlich ein Gradmesser», sagt Afra Sturm, Leiterin des Zentrums Lesen der Pädagogischen Hochschule FHNW. Die Erhebung des BfS stammt aus dem Jahr 2006 und ist die neuste der Schweiz, wobei bloss die Lese- und nicht auch die Schreibkompetenzen untersucht worden sind. «Es kann deshalb sein, dass die Zahl eventuell leicht höher ist», so Sturm. Studien aus Deutschland kämen zum Schluss, dass rund 15 Prozent der Bevölkerung von einer Lese- oder Schreibschwäche betroffen seien.

«Wenn ich jetzt lese, was ich vor Jahren geschrieben habe, bekomme ich Zustände. Die Menschen um mich waren wohl einfach lieb mit mir.» (E. K., 56-jährig, Pflegefachfrau)

Schwierigkeiten bereits in der Schule

Jede und jeder kann sich an sie erinnern: an den Klassenkameraden, der in der Primarschule immer die schlechteste Note im Aufsatz bekam, an die Sitznachbarin, die ihre Diktate jeweils mit Dutzenden rot umkreisten Wörtern zurückerhalten hat.

Doch lange nicht alle, die in der Schule Mühe mit Lesen und Schreiben haben, sind später funktionale Analphabeten. Bei vielen fangen die Probleme jedoch bereits im Primarschulalter an. Da sind die ausbleibenden Erfolgserlebnisse, der daraus resultierende Mangel an Selbstvertrauen, hänselnde Mitschüler und vielleicht der eine oder andere Lehrer, dessen Art eher einschüchternd anstatt motivierend ist.

«In Deutsch war ich schlechter als alle anderen. Oft hiess es dann, ich sei halt der Idiot, der sowieso nichts verstehe. Und auch die Lehrer haben sich nicht wirklich um mich gekümmert.» (U. K.)

«Personen, die von funktionalem Analphabetismus betroffen sind, sind nicht minder intelligent. Sie hätten unter Umständen einfach mehr Lernzeit und vor allem eine spezifischere Förderung benötigt», sagt Afra Sturm. Gesundheitliche, persönliche oder familiäre Faktoren könnten genauso eine Rolle spielen, dass bei einem Menschen der Lernprozess, um Texte zu verstehen oder zu schreiben, behindert werde, betont Tonja Bollinger. Sie ist Kommunikationsverantwortliche beim Schweizer Dachverband Lesen und Schreiben.

«Die Schwierigkeiten sind sehr individuell», sagt Bollinger. Ob man diese Probleme noch in Kinder- und Jugendjahren angehen könne, hänge wieder von vielen Faktoren ab. Die Persönlichkeit der Jugendlichen, der familiäre und kulturelle Hintergrund sowie die Möglichkeiten der Lehrpersonen sind mitentscheidend, ob es bei schulischen Problemen bleibt – oder ob sich daraus ein Defizit entwickelt, welches das Leben der Betroffenen prägt.

Plötzlicher Einschnitt im Leben

Meist ist es ein Zusammenspiel verschiedener Faktoren, das die Lese- oder Schreibschwäche noch verfestigt. Problematisch sind dabei sogenannte Ausweichstrategien, welche betroffene Personen entwickeln. «Diese Strategien festigen sich mit der Zeit, beispielsweise wenn man immer Hilfe bei Mitarbeitenden sucht oder Arbeiten delegiert», sagt Tonja Bollinger.

Beim Restaurantbesuch wählen einige Betroffene immer das Tagesmenu, ohne zu wissen, was serviert wird. Andere versuchen, wenn möglich gar nicht mehr zu schreiben.

«Schon früh habe ich mir angewöhnt, eine hässliche und unleserliche Schrift zu haben. Oft sage ich dann der Person, die mich auffordert, ein Formular auszufüllen, dass ich derart ‹wüest› schreibe, dass sie es besser selbst machen soll.» (U. K.)

Illettrismus ist ein soziales Phänomen, keine klassifizierte Krankheit.

Illettrismus ist ein soziales Phänomen, keine klassifizierte Krankheit.

Goran Basic / NZZ

In gewissen Berufsfeldern ist es möglich, dass ein Lese- und Schreibdefizit niemandem auffällt. Doch dies kann sich schlagartig ändern. «Der Auslöser ist meist ein einschneidendes Ereignis, mit dem ein neuer Lebensabschnitt beginnt», führt Bollinger aus. Lässt man sich scheiden, fehlt plötzlich die Hilfe des Partners. Kommen die Kinder in die Primarschule, benötigen sie auf einmal Hilfe bei den Hausaufgaben. Wechselt man den Beruf, fällt die Schreibschwäche plötzlich ins Gewicht. «Oft ergibt sich eine Negativspirale von Schamgefühlen und Frust», sagt Bollinger.

«Ich merke, dass das Thema Rechtschreibung in mir sehr viel auslöst – meist negative Gefühle. Teilweise definiere ich mich über meine Schreibdefizite, was manchmal sehr belastend ist.» (M. A.)

Mit einem geringen Selbstwertgefühl gehen vielfach gesundheitliche Probleme einher. Nicht selten sind Depressionen oder ein Burnout die Folge. Beruflich ist ein Aufstieg schwierig, die fehlende Flexibilität bei Umstrukturierungen kann in die Arbeitslosigkeit führen.

Deshalb sind die durch Illettrismus bedingten Kosten für die Gesellschaft beachtlich. Eine vom Bundesamt für Statistik in Auftrag gegebene Studie von 2007 geht davon aus, dass jährlich mehr als eine Milliarde Franken der Ausgaben der Arbeitslosenversicherung auf Leseschwäche zurückzuführen ist.

Daneben stellt sich aber auch die Frage nach den sozialen Folgen von Illettrismus. Können die 800 000 Betroffenen im gleichen Mass am gesellschaftlichen Leben teilhaben? Oder werden sie in gewissen Bereichen – wenn auch unbewusst – ausgeschlossen?

«Ich weiss, dass ich nicht weniger intelligent bin. Dennoch wird das Thema für mich immer mit Scham verbunden bleiben.» (E. K.)

Fragezeichen hinter der Digitalisierung

Die Lese- oder Schreibschwäche als solche anzuerkennen, ist das eine. Doch wissen viele Betroffene nicht, an wen sie sich wenden müssen. In Kursen, die von verschiedenen Fachstellen durchgeführt werden, können betroffene Personen ihre Lese- und Schreibprobleme angehen. «Dadurch werden auch die soziale Integration und die Arbeitsmarktfähigkeit gefördert», sagt Tonja Bollinger.

«Vor mehr als zwanzig Jahren habe ich erstmals Hilfe gesucht. Ich habe mich damals bei der Migros-Klubschule gemeldet. Dort gab es aber keinen Kurs für mein Problem, das allein aus einer Schreibschwäche bestand. Mit Büchern musste ich mir dann selbst helfen und mich weiterhin ‹dürebschiisse›.» (E. K.)

Zwar ist in den vergangenen Jahren das Angebot für funktionale Analphabeten gewachsen. Dennoch gibt es keine Anzeichen, dass sich die Problematik entschärft haben könnte. «Wir gehen davon aus, dass die Zahl der Betroffenen mit der Digitalisierung nicht kleiner geworden ist», sagt Tonja Bollinger.

Die Verschriftlichung der Kommunikation hat in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen. Doch bieten Smartphones vermehrt Möglichkeiten, die Schriftlichkeit zu umgehen. Aufnahmefunktion und Spracherkennungssoftware können dabei genauso nützlich sein wie Eingabehilfen und Autokorrektur.

Allerdings kann die Digitalisierung Personen mit einer Lese- und Schreibschwäche auch vor weitere Probleme stellen; der Gang zum Postschalter fällt zusehends weg, amtliche Formulare sind irgendwo auf einer Website versteckt.

«Inzwischen kann ich recht gut schreiben. Doch ich werde immer diejenige sein, die etwas länger für einen Text braucht – und am Ende noch zwei- oder dreimal drüberlesen muss.» (E. K.)

Dass sich mit der Digitalisierung das Problem akzentuiert hat, glaubt Afra Sturm von der Pädagogischen Hochschule FHNW hingegen nicht. «Die Schulen haben auf die gestiegenen Anforderungen reagiert.» Ausruhen könne man sich aber nicht. «Einerseits braucht es in der Schule weitere Anstrengungen auf der Ebene der Prävention, anderseits sind auch gesellschaftliche Bemühungen notwendig», so Sturm.

Wichtig sei dabei vor allem ein breites Bewusstsein in der Bevölkerung, dass Lese- oder Schreibschwierigkeiten nicht mit mangelnder Intelligenz zusammenhingen, sagt Sturm. «Ebenso muss der Bevölkerung klar werden, dass diese Schwierigkeiten nicht selbstverschuldet sind, sondern dass verschiedene Faktoren dahinterstehen.»

«Manchmal merke ich, dass ich aufgrund meiner Schwäche nicht akzeptiert werde – das ist das Schlimmste.» (M. A.)