Warum bleibt der Erfolg von Kindern mit Migrationshintergrund nach wie vor eine Ausnahme?

Warum bleibt der Erfolg von Kindern mit Migrationshintergrund nach wie vor eine Ausnahme?

Thomas Baumann

Kinder von Migrantinnen und Migranten müssen stets etwas mehr arbeiten als alle anderen: Ana da Silva Rodrigues und Matthias Stierlin Szabò haben sich trotz schlechten Startchancen durchgesetzt.

René Donzé 5 min
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Als Ana da Silva Rodrigues aus Portugal in die Schweiz kam, war sie 15. «Wir hatten es ziemlich eng», sagt die heute 27-Jährige. Zuerst lebten sie in einer Dreizimmerwohnung in Rüti im Zürcher Oberland: der Vater Bauarbeiter, die Mutter Masseurin, drei jüngere Geschwister. Lernen unter diesen Umständen? Eine Herausforderung. «In Portugal hatte ich gute Noten», erzählt sie. In der Schweiz jedoch war das nicht mehr so. Die Eltern konnten nicht helfen, mangels Bildung, mangels Sprachkenntnissen, mangels Zeit.

Also musste Ana da Silva für sich alle Texte auf Portugiesisch übersetzen und dann die Antworten wieder zurück. «Mein Aufwand war doppelt bis dreimal so gross wie der anderer Schüler», sagt sie. Zum Glück konnte sie in Französisch und Mathematik gut mithalten. Ihr Ziel, das Gymnasium, schien in weiter Ferne. «Als Ausländerkind fühlt man sich hier oft fehl am Platz und will nicht auffallen. Da ist es schwierig, um Hilfe zu bitten», sagt sie.

Tiefer Bildungsstand der Eltern, niedriger sozioökonomischer Status der Familie, Migrationshintergrund: Das schafft Bildungsverlierer – Kinder, die ihr Potenzial nicht entfalten können. Jürg Schoch nennt diese drei Faktoren das «Trio infernale». Er ist Präsident der Allianz Chance Plus, die sich für Bildungsgerechtigkeit einsetzt. Er ist aber vor allem auch Vater des Förderprogramms Chagall, das Kinder aus solchen Verhältnissen fördert.

Matthias Stierlin Szabò hatte die besten Voraussetzungen für einen guten Schüler und hatte es doch schwer in der Schule.

Ana da Silva war eine von ihnen. Ebenso Matthias Stierlin Szabò. Der heute 20-jährige Sohn einer ungarischen Mutter und eines Vaters, der als Auslandschweizer der zweiten Generation in Bolivien lebt, ist fleissig und neugierig: «Wissen sammeln ist etwas, was ich gerne mache», sagt er. Er hatte die besten Voraussetzungen für einen guten Schüler und hatte es doch schwer in der Schule. Aufgewachsen in Bolivien, zog er mit sieben nach Ungarn und mit zwölf in die Schweiz. «Deutsch war nach Spanisch, Englisch und Ungarisch meine vierte Sprache», sagt er. Mundart verbot er sich, weil er keine Fehler machen wollte. Die Mutter, eine studierte Kulturanthropologin, verstand kein Deutsch. «Ich musste ihr alles übersetzen.» Auch er wollte aber unbedingt ins Gymnasium.

«Ich musste sehr viel arbeiten»

Rund 20000 bis 25000 Kindern, so schätzt Jürg Schoch, geht es jedes Jahr so wie Ana da Silva und Matthias Stierlin. Sie sind ehrgeizig, intelligent, und doch scheint die Hürde zu hoch für eine akademische Laufbahn. «Unser System selektioniert die Kinder nicht nach deren Potenzial, sondern nach deren sozialem Hintergrund», kritisiert Jürg Schoch, der einst das Institut Unterstrass in Zürich leitete – eine private Schule, die vom Kindergarten übers Gymnasium bis zur Lehrerbildung alles anbietet. Um wenigstens einigen Kindern zu helfen, initiierte er 2008 zusammen mit anderen das Programm Chagall – das steht für «Chancengerechtigkeit durch Arbeit an der Lernlaufbahn».

Jedes Jahr werden seither am Gymnasium Unterstrass zwei Dutzend Jugendliche aus sozioökonomisch schwierigen Verhältnissen gezielt auf Mittelschulprüfungen vorbereitet. Das Programm ist hart: rund neun Monate lang zusätzlich Schule an den Mittwochnachmittagen und Samstagvormittagen. Zu Beginn des Programms absolvieren alle unter anderem einen Arbeitsvermeidungstest: Wer da gut abschneidet, hat Aussichten auf Erfolg: «Das ist ein ziemlich guter Indikator», sagt Schoch. Rund 75 Prozent der Teilnehmenden bestehen die Gymiprüfung oder die Aufnahmeprüfung für die Berufsmittelschule, von diesen überstehen 90 Prozent die Probezeit. Damit liegen sie deutlich über dem Durchschnitt.

Ich will meinen Beitrag für die Gesellschaft dort leisten, wo ich am besten bin. Und das ist das Unterrichten», sagt Ana da Silva Rodriques.

Ana da Silva hat es geschafft. Matthias Stierlin nicht. Sie bestand die Gymiprüfung und machte ihren Weg zum Bachelor als Bauingenieurin. Nun studiert sie Mathematik an der ETH – mit dem Ziel, Gymilehrerin zu werden. «Ich will meinen Beitrag für die Gesellschaft dort leisten, wo ich am besten bin. Und das ist das Unterrichten», sagt sie. Noch immer lebt sie zu Hause und verdient etwas als Nachhilfelehrerin. Und sie hilft mittlerweile auch bei Chagall mit. Sie dient dort auch als Vorbild: «Ich musste sehr viel arbeiten, um meine Ziele zu erreichen, aber es hat sich gelohnt.»

Matthias Stierlin hat einen anderen Weg eingeschlagen. «Ich war sehr nervös während der Prüfungen», sagt er. Zweimal hat er die Gymiprüfung nicht bestanden. Für die Berufsmaturitätsschule reichte es dann, doch in der Probezeit war erneut Schluss. Ihm, dem Perfektionisten, stand noch immer die Sprache im Weg. «Ich bringe manchmal die Reihenfolge der Wörter durcheinander», kritisiert er sich selbst.

«Die kommen nicht weg von mir»

Jürg Schoch will nicht von Misserfolg sprechen, wenn ein Chagall-Teilnehmer es nicht zur Matura schafft. «Es geht uns in erster Linie darum, dass sie sich etwas zutrauen, dass sie lernen, etwas anzupacken, und es auch durchziehen.» Darum stehe auch weniger die reine Stoffvermittlung im Zentrum von Chagall. Vielmehr sind es Arbeitstechnik, Selbstvertrauen, Zuversicht, die gefördert werden. Die Lehrerinnen nennen sich Trainerinnen. Fragt man Schoch nach dem wichtigsten Element der Förderung dieser Jugendlichen, sagt er «Beziehung!».

Mittlerweile gibt es mehrere Projekte an anderen Schulen und in anderen Kantonen, die den Ansatz von Chagall übernommen haben. Die meisten setzen beim Übertritt von der Sekundarschule ins Gymi an, es gibt auch Programme für Sechstklässler oder Berufsmittelschüler. «Wir reparieren an den Schnittstellen», sagt Schoch. Eigentlich aber müsste die Hilfe früher einsetzen: bei Neugeborenen in sozioökonomisch schwachen Familien. Bei der Integration Zugezogener. Die Allianz Chance Plus will sowohl Unterstützungsprogramme ausbauen als auch die Politik sensibilisieren.

Matthias Stierlin hat nicht aufgegeben: «Die kommen nicht so leicht weg von mir», sagt er und meint damit die Hochschulen. Derzeit absolviert er das vierte Lehrjahr als Applikationsentwickler an der ETH. Danach will er doch noch die Berufsmatura absolvieren und studieren – Aviatik oder Informatik.

Ana da Silva hat noch einiges vor sich, bis sie den Mathematik-Master und das Lehrdiplom in der Tasche hat. Eine ihrer Schwestern studiert, die andere ist auf dem Weg dazu. Der Bruder hat vor zwei Jahren mit Chagall den Sprung ins Gymnasium geschafft. Treibende Kraft hinter ihren Bildungskarrieren sei der Vater, erzählt sie. «Ihm ist es wichtig, dass wir eine gute Ausbildung geniessen.» Inzwischen lebt die Familie in einer grösseren Wohnung, in der jeder sein Zimmer hat. Ferien aber haben sie noch nie gemacht. Dafür reicht das Budget nicht.

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