Wie die 60 Milliarden zustande kommen

EU-Kommissions-Präsident Juncker hat unlängst gesagt, der Austritt aus der EU werde die Briten «mindestens 60 Milliarden Euro» kosten. Woher nimmt er diese Zahl? Und wie realistisch ist sie?

René Höltschi, Brüssel
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60 Milliarden Euro soll der Austritt aus der EU («Brexit») die Briten kosten. Seit Wochen kursiert die Zahl. Doch stimmt sie? Die Rechnung betrage «mindestens 60 Milliarden Euro», sagte der EU-Kommissions-Präsident Jean-Claude Juncker der «Financial Times».

Drei grosse Brocken

Der EU-Chefunterhändler Michel Barnier hingegen redet noch nicht über Zahlen. Zwar zählt er Budgetfragen – neben dem Status der betroffenen Bürger und den neuen EU-Grenzen (Irland) – zu den drei Prioritäten für den Start der Austrittsverhandlungen. Doch zunächst wolle man mit den Briten nur die Methode zur Ermittlung der «Brexit Bill» vereinbaren, erklärt sein Umfeld. Welche Zahl sich daraus ergebe, könne man erst beim Austritt berechnen.

Die Brexit-Rechnung birgt politischen Zündstoff. (Bild: Olivier Hoslet / EPA)

Die Brexit-Rechnung birgt politischen Zündstoff. (Bild: Olivier Hoslet / EPA)

Die Austrittsrechnung ist aus EU-Sicht nicht eine Strafe, sondern ein unumgänglicher Ausgleich der Konten. Dabei schlagen vor allem drei Posten zu Buche. Erstens hat die EU offene Rechnungen – den «reste à liquider» (RAL). Das sind finanzielle Verpflichtungen, die sie verbindlich eingegangen ist, ohne dass die fraglichen Beträge bereits ausbezahlt worden sind. Sie entstehen aus Projekten, die über mehrere Jahre laufen und vor allem bei den Kohäsionsfonds (Co-Finanzierung von Investitionen in schwächeren Regionen) und den Fonds für die ländliche Entwicklung gängig sind. Per Ende 2015 hat dieser RAL 217 Milliarden Euro betragen.

Den zweiten Brocken mit einer Grössenordnung von 150 Milliarden bis 170 Milliarden Euro bilden Zusagen aus diesen Fonds und weiteren Programmen, die der laufende EU-Finanzrahmen für 2019 und 2020 (also nach dem Brexit) vorsieht. Drittens verweist die EU-Kommission auf die Pensionen aller EU-Beamten. Bis Ende 2015 sind hierfür knapp 64 Milliarden Euro an Verpflichtungen aufgelaufen. Hinzu kommen komplexe Nebenposten.

Die Briten seien an den einschlägigen Entscheiden beteiligt gewesen und müssten sich nun anteilig an der Einlösung dieser Versprechen beteiligen, lautet das Brüsseler Kernargument: Wer im Pub eine Runde Bier bestelle, habe diese auch dann zu bezahlen, wenn er danach vorzeitig nach Hause gehe. Nimmt man die Beiträge der Briten in den EU-Haushalt der letzten Jahre als Massstab, beträgt ihr Anteil an den genannten Verpflichtungen 11 bis 16 Prozent. Davon abzuziehen sind ausstehende Zahlungen für EU-Projekte in Grossbritannien und eventuell ein Anteil am EU-Vermögen (z. B. Gebäude).

Neun Monate nach dem Brexit-Referendum hat die britische Regierung offiziell den Austritt aus der Europäischen Union beantragt. Das bestätigte Premierministerin Theresa May, hier verlässt sie ihren Amtssitz in der Downing Street, am Mittwoch im Parlament in London. (Bild: Kirsty Wigglesworth / AP)
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Brexit-Gegner säumen die Strasse, während die Regierungschefin vorbeifährt. Eine knappe Mehrheit der britischen Wähler hatte im Juni 2016 für den Brexit gestimmt. (Bild: Matt Dunham / AP)
Fast zur gleichen Zeit übergibt der britische EU-Botschafter Tim Barrow (links) in Brüssel den offiziellen Brexit-Antrag an EU-Rats-Präsident Donald Tusk. (Bild: Emmanuel Dunand / Epa)
Mit dieser Aushändigung dieses Dokuments beginnt eine zweijährige Frist, in der beide Seiten die Details des Brexit aushandeln müssen. (Bild: Yves Herman / Epa)
Sobald die EU-Staaten die Richtlinien gebilligt haben, können die Verhandlungen beginnen. Auf der britischen Seite wird dies Brexit-Minister David Davis übernehmen, der sich heute sichtlich zufrieden an der Downing Street in London blicken liess. (Bild: Kirsty Wigglesworth / AP)
Freudig zeigt sich der ehemalige Chef der EU-feindlichen Ukip-Partei, Nigel Farage, über den offiziellen Austritt Grossbritanniens aus der EU in London. «Der unmögliche Traum wird wahr. Heute überschreiten wir den Punkt, von dem es kein Zurück mehr gibt.». (Bild: Matt Dunham / AP)
Vor dem britischen Parlament machen Brexit-Gegner ihrem Unmut Luft. (Bild: Andy Rain / EPA)
Wieder andere möchten zu diesem Thema am liebsten gar nichts mehr sagen. (Bild: Matt Dunham / AP)
Die Vorbereitungen für die grosse Pressekonferenz im Europäischen Parlament laufen auf Hochtouren. (Bild: Virginia Mayo / AP)
Der Brexit-Bote Tim Barrow findet sich bereits am Morgen im Europaparlament in Belgien ein. (Bild: Virginia Mayo / AP)
Ihre Unterschrift hat Theresa May bereits am 28. März unter die EU-Austrittserklärung gesetzt. (Bild: Christopher Furlong / Reuters) Zum Artikel

Neun Monate nach dem Brexit-Referendum hat die britische Regierung offiziell den Austritt aus der Europäischen Union beantragt. Das bestätigte Premierministerin Theresa May, hier verlässt sie ihren Amtssitz in der Downing Street, am Mittwoch im Parlament in London. (Bild: Kirsty Wigglesworth / AP)

Bei mehreren dieser Posten lässt sich über Berechtigung und Berechnung trefflich streiten. Die 60 Milliarden Euro, aber auch ihre schroffe Zurückweisung durch den britischen Handelsminister Liam Fox sind deshalb kaum mehr als Eröffnungszüge. Je nach Beantwortung der Streitfragen ergibt sich laut dem Londoner Centre for Economic Reform ein Nettobetrag zulasten der Briten von 25 Milliarden bis 73 Milliarden Euro.

Politik statt Wissenschaft

Am Ende dürfte die Zahl unter den 60 Milliarden liegen und nicht «wissenschaftlich ermittelt» werden (Juncker), sondern Teil eines politischen Gesamtpakets sein. Gibt es hingegen keine Einigung, drohen langwierige gerichtliche Nachspiele. Zahlt London nicht oder nur sehr wenig, müssen die Nettoempfänger in der EU-27 auf Teile der bis 2020 zugesagten Mittel verzichten, oder die Nettozahler müssen mehr einzahlen. Für die nächste siebenjährige Finanzperiode ab 2021 muss die EU ohne den britischen Nettozahler ohnehin neu rechnen.