EU-Kommissions-Präsident Juncker hat unlängst gesagt, der Austritt aus der EU werde die Briten «mindestens 60 Milliarden Euro» kosten. Woher nimmt er diese Zahl? Und wie realistisch ist sie?
60 Milliarden Euro soll der Austritt aus der EU («Brexit») die Briten kosten. Seit Wochen kursiert die Zahl. Doch stimmt sie? Die Rechnung betrage «mindestens 60 Milliarden Euro», sagte der EU-Kommissions-Präsident Jean-Claude Juncker der «Financial Times».
Der EU-Chefunterhändler Michel Barnier hingegen redet noch nicht über Zahlen. Zwar zählt er Budgetfragen – neben dem Status der betroffenen Bürger und den neuen EU-Grenzen (Irland) – zu den drei Prioritäten für den Start der Austrittsverhandlungen. Doch zunächst wolle man mit den Briten nur die Methode zur Ermittlung der «Brexit Bill» vereinbaren, erklärt sein Umfeld. Welche Zahl sich daraus ergebe, könne man erst beim Austritt berechnen.
Die Austrittsrechnung ist aus EU-Sicht nicht eine Strafe, sondern ein unumgänglicher Ausgleich der Konten. Dabei schlagen vor allem drei Posten zu Buche. Erstens hat die EU offene Rechnungen – den «reste à liquider» (RAL). Das sind finanzielle Verpflichtungen, die sie verbindlich eingegangen ist, ohne dass die fraglichen Beträge bereits ausbezahlt worden sind. Sie entstehen aus Projekten, die über mehrere Jahre laufen und vor allem bei den Kohäsionsfonds (Co-Finanzierung von Investitionen in schwächeren Regionen) und den Fonds für die ländliche Entwicklung gängig sind. Per Ende 2015 hat dieser RAL 217 Milliarden Euro betragen.
Den zweiten Brocken mit einer Grössenordnung von 150 Milliarden bis 170 Milliarden Euro bilden Zusagen aus diesen Fonds und weiteren Programmen, die der laufende EU-Finanzrahmen für 2019 und 2020 (also nach dem Brexit) vorsieht. Drittens verweist die EU-Kommission auf die Pensionen aller EU-Beamten. Bis Ende 2015 sind hierfür knapp 64 Milliarden Euro an Verpflichtungen aufgelaufen. Hinzu kommen komplexe Nebenposten.
Die Briten seien an den einschlägigen Entscheiden beteiligt gewesen und müssten sich nun anteilig an der Einlösung dieser Versprechen beteiligen, lautet das Brüsseler Kernargument: Wer im Pub eine Runde Bier bestelle, habe diese auch dann zu bezahlen, wenn er danach vorzeitig nach Hause gehe. Nimmt man die Beiträge der Briten in den EU-Haushalt der letzten Jahre als Massstab, beträgt ihr Anteil an den genannten Verpflichtungen 11 bis 16 Prozent. Davon abzuziehen sind ausstehende Zahlungen für EU-Projekte in Grossbritannien und eventuell ein Anteil am EU-Vermögen (z. B. Gebäude).
Bei mehreren dieser Posten lässt sich über Berechtigung und Berechnung trefflich streiten. Die 60 Milliarden Euro, aber auch ihre schroffe Zurückweisung durch den britischen Handelsminister Liam Fox sind deshalb kaum mehr als Eröffnungszüge. Je nach Beantwortung der Streitfragen ergibt sich laut dem Londoner Centre for Economic Reform ein Nettobetrag zulasten der Briten von 25 Milliarden bis 73 Milliarden Euro.
Am Ende dürfte die Zahl unter den 60 Milliarden liegen und nicht «wissenschaftlich ermittelt» werden (Juncker), sondern Teil eines politischen Gesamtpakets sein. Gibt es hingegen keine Einigung, drohen langwierige gerichtliche Nachspiele. Zahlt London nicht oder nur sehr wenig, müssen die Nettoempfänger in der EU-27 auf Teile der bis 2020 zugesagten Mittel verzichten, oder die Nettozahler müssen mehr einzahlen. Für die nächste siebenjährige Finanzperiode ab 2021 muss die EU ohne den britischen Nettozahler ohnehin neu rechnen.