Stadt und Polizei machen Druck: Junkies auf der Flucht

29.8.2016, 05:58 Uhr
Stadt und Polizei machen Druck: Junkies auf der Flucht

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"Ihr habt euch einen tollen Zeitpunkt ausgesucht, gerade waren Bullen hier", ruft ein Drogenabhängiger den Streetworkerinnen Christine Wagner und Ulrike Seikat zu. Jetzt müssen sie warten, bis sich die Situation wieder beruhigt. Und sich die Szene an dem abseits gelegenen Ausgang von der Königstorpassage zum Frauentorgraben wieder einfindet.

Seit Jahren gehen die Mitarbeiterinnen von Lilith, der Drogenhilfe für Frauen, die aber auch süchtigen Männern auf der Straße hilft, zu den Abhängigen. Die massiven Polizeikontrollen, mit denen die Stadt seit Anfang des Jahres die Junkies aus der Königstorpassage vertreiben will, haben sie erschreckt. "Manchmal kommen 20 bis 30 Einsatzkräfte und kesseln die Leute ein", sagen die Sozialpädagoginnen. Ihre Arbeit sei kompliziert geworden. Dabei war sie schon ohne Polizeidruck schwierig genug.

Stadt und Polizei machen Druck: Junkies auf der Flucht

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Wagner nennt den Seitenausgang der U-Bahnpassage, den viele Nürnberger meiden, weil sie die blassen, zuweilen orientierungslosen Junkies nicht sehen wollen, auch "Pissecke". Seit der Klogang in der Königstorpassage etwas kostet, werde hier öfter in die Ecken gepinkelt. Je nach Wetter stinkt’s mal mehr, mal weniger.

"Hierher kommen nur die Süchtigen, die keine andere Möglichkeit haben." Diejenigen, die in Kauf nehmen, dass Dealer ihnen unter dem ständig aufzeichnenden Auge einer Überwachungskamera "Dreck", also schlechten Stoff, anbieten. Flüchtlinge sind hier, die Streetworkerinnen verstehen sie nicht. Sie wissen nichts über ihre Süchte und Biografien, reichen sterile Spritzen rüber, wenn sie in schlechtem Deutsch darum gebeten werden. Mehr ist nicht drin.

"Wir brauchen Fachleute, die Arabisch sprechen", fordert Wagner. Die Szene sei nichts anderes als ein Spiegel der Gesellschaft, Menschen anderer Kulturen kommen hinzu. Als Wagner vor 29 Jahren mit der Arbeit anfing, waren es Türken, dann Klienten aus den GUS-Staaten. Jetzt Flüchtlinge.

Angst um jeden Hund

Hinter der Mauer, an der die Junkies lehnen, Bier trinken, rauchen, Geschäfte abschließen, schießt eine völlig deplatziert wirkende Wasserfontäne in die Höhe. Die Brühe im Betonbecken darunter ist gelb und stinkt. Was diesen vernachlässigten Ort ansehnlicher machen sollte, wurde schon zum Grab für ersoffene Ratten. Wagner hat Angst um jeden Hund, der in das Becken springt, um sich abzukühlen.

Daneben wird Heroin gedrückt. Gebrauchte Spritzen landen oft in den Papierkörben. An alldem gebe es nichts zu beschönigen. Doch weil sich die Süchtigen in keiner Stadt der Welt in Luft auflösen können, ist Wagner dafür, diesen Ort für die Drogenabhängigen zu opfern.

Die Alternativen seien schließlich keinen Deut besser. Im Gegenteil. Seit die Polizei ihre Kontrollen verstärkt hat, sei die Szene getrieben, sagt Ulrike Seikat. Junkies flüchten von der Königstorpassage zum Aufseßplatz. Der Platz in der Südstadt, nur eine U-Bahnstation vom Hauptbahnhof entfernt und doch mitten im Wohngebiet, wurde zum neuen Hotspot der Szene.

"Früher mussten wir unsere Klienten nur am Hauptbahnhof besuchen, da haben wir alle erreicht", sagt Seikat. Jetzt müssen sie mit den Süchtigen mitpendeln und ihren Einkaufstrolley voller Info-Material über Hilfsangebote und die dicken Taschen mit den steril verpackten Spritzen, Einweglöffeln, Alkoholtupfern und Ascorbinsäure zum Aufkochen des Heroins hin- und hertragen.

"Wir wissen nie, ob die Leute gerade am Bahnhof oder auf dem Aufseßplatz sind. Es ist schwierig geworden, in Ruhe zu reden, denn wenn Polizei kommt, rennen sie sofort weg", sagt Seikat. Bislang sei es eine unausgesprochene Abmachung zwischen Streetworkern und Polizei gewesen, dass bei Gesprächen nicht gestört wird. "Auch das wird aufgeweicht", bedauert sie.

Gewohnheit macht’s möglich

Gerade ist in der Königstorpassage die eine Kontrolle beendet, da kommen schon wieder zwei Polizisten und fassen Ahmed (Name geändert) in jede Tasche seiner Jeans, unter das Hemd, sogar unter den Bund der Unterhose. Er hat keine Drogen dabei, lässt die Sache geduldig über sich ergehen. Gewohnheit macht’s möglich.

Später erzählt er Seikat, dass er seit ein paar Tagen nichts mehr nimmt, raus will aus der Szene. Sie nennt ihm Anlaufstellen und Programme, die ihm helfen können. Es ist einer von vielen kurzen Kontakten an diesem Nachmittag. 50 bis 60 sind es immer, wenn die Lilith-Mitarbeiterinnen drei Stunden unterwegs sind. Immer wieder gelinge es, Süchtige in die Vereinsräume in der Bogenstraße zu ziehen und dort weiterzubetreuen. Erfolge, auf die sie nicht verzichten wollen. Es geht schließlich darum, Leben zu retten, Perspektiven zu eröffnen.

Weshalb Wagner in den Gesprächen mit Ordnungsamt, Bürgermeisteramt, städtischem Drogenbeauftragten und Polizei nicht nachlässt. Alle Beteiligten wollten sicher nur das Beste, meint sie. Nur sei das eben für jeden etwas anderes. Die Stadt wolle eine aufgeräumte Königstorpassage, "wir wollen unseren Schäfchen helfen".

"Ich darf nicht auf der Bank sitzen"

Eines von ihnen ist Dagmar (Name geändert). Seit vielen Jahren ist sie im Methadonprogramm, hat eine Wohnung, sogar mit kleinem Garten. Dorthin nimmt sie manchmal Kumpel aus der Szene mit, wenn die "Schwarzen Sheriffs" wieder mal auf dem Aufseßplatz kontrollieren. Seit rund drei Wochen seien regelmäßig Polizeikräfte hier, bestätigen die Streetworkerinnen. Lassen sich Ausweise zeigen, sprechen Platzverweise aus.

Der Druck soll diejenigen, die vom Hauptbahnhof kamen, weitertreiben. "Ich darf nicht auf der Bank sitzen, soll sofort weggehen", sagt Dagmar. Sie bekomme von den Polizisten auch gleich gesagt, wohin sie nicht dürfe: nicht zum Hauptbahnhof, nicht auf den Kopernikusplatz.

Dagmar hat keinen Stoff dabei, will nur Freunde treffen. Unmöglich, seit die Szene auch die Südstadt verlassen soll. Drei Mal sei sie schon in Gewahrsam genommen worden, weil sie nicht gehen wollte. Dabei sitze sie bewusst nicht am Spielplatz. Die "total abgestürzten" Junkies kochten dort Heroin auf, erzählt sie. Auch in Hauseingängen werde konsumiert. Dagmar versteht, dass Eltern wütend sind. Und dann sagt sie das, was auch Wagner und Seikat gebetsmühlenartig wiederholen: Nürnberg brauche endlich Konsumräume. Doch in Bayern klingt das so, als glaube man an den Weihnachtsmann.

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